Der österreichische Autor und Regisseur David Schalko zeichnet mit seinem bitterbösen Gangsterroman "Schwere Knochen" ein schillerndes Bild der Wiener Nachkriegsgesellschaft. Die Hauptgestalt Ferdinand Krutzler, bereits bei der Geburt ein Riese, ein "Ungetüm". Mit schweren Knochen! Dazu der "bleiche Wessely", der "vierschrötige Praschak" und der "schlaksige Sikora". Die wilde "Männerfresserin" Musch schließlich, die alle überleben wird, rundet das skurrile Figurenensemble ab. Aufgewachsen sind sie im Wiener Erdberger Bezirk, einem Proletenviertel mit fließenden Grenzen zur Halbwelt.
Bei seinen zehnjährigen Recherchen zum Buch taucht Schalko tief ein in die Geschichte: Drei Jahrzehnte stehen im Fokus: 1938 bis 1961, von der Vorkriegs- bis zur Nachkriegszeit.
Fakten, Persönlichkeiten, Ereignisse dieser Zeit fügen sich zusammen zu einem fabelhaften Panoptikum. Zum Beispiel dient als Vorbild für Krutzler, den "gefährlichsten Mann Wiens", ein Verbrecherkönig aus jenen Tagen. Selbst die aus einem indonesischen Tierbordell stammende Äffin Honzo, Lebensgefährtin eines exzentrischen Arztes, gab es wirklich.
Die vier Erdberger Buben - ausführlich vorgestellt zu Beginn - gründen die "Erdberger Spedition", keine Spedition im eigentlichen Sinn, sondern so genannt, da
sie mit höchster Kunstfertigkeit lohnende Wohnungen "evakuieren", sprich so virtuos ausräumen, als wäre der Betroffene ausgezogen. Ihr Verhängnis - wohl aus Selbstüberschätzung: Am 15. März
1938,
dem "Tag des Anschlusses", rauben sie "Nazi-Hubers" Wohnung, die dieser einem jüdischen Kaufmann abgeluchst hat, bis auf den letzten Teller aus. Deshalb landen sie bis auf Praschak im Konzentrationslager Dachau. Hier bekommen sie, stellt der Erzähler fest, den richtigen Schliff; dank des Großverbrechers Hitler werden die Kleinganoven der Vorkriegszeit zu Großverbrechern der Nachkriegszeit. "Die drei stiegen schon als Persönlichkeiten in den Zug. Aber als sie zurückkamen, waren sie geschliffene Diamanten. Weniger was den Glanz als was die Härte betraf."
Krutzler steigt im KZ Mauthausen zum Kapo auf, lebt zwischen den Fronten; abhängig von der Gunst der SS, bewacht er die Mithäftlinge, organisiert den Alltag. „Ohne die Drecksarbeit der Kriminellen wäre so ein Konzentrationslager ein richtiger Sauhaufen gewesen.“ Dort lernt er auch seine "spätere Handschrift", den "Krutzler´schen Halsstich", eine spezielle Mordmethode, die keine Spuren hinterlässt. Im KZ werden auch Kontakte geknüpft, die nach
dem Krieg von Bedeutung sind, etwa mit dem späteren korrupten Polizeichef Podgorsky, einem politischen Gefangenen. Seit jener Zeit wisse er auch, was es mit der menschlichen Natur tatsächlich auf sich habe, sagt Krutzler später. "Notwehrspezialist" wird er im Milieu genannt, wegen der außerordentlichen Fähigkeit, Morde - elf insgesamt - als Notwehr aussehen zu lassen. Wie viele Morde er am Ende begangen hat, weiß er selbst nicht. In einem Interview erzählt Schalko, dass er mit Zeitzeugen gesprochen und die Handlung auch vom Mauthausen-Komitee habe überprüfen lassen. Der Roman ist ganz aus der Kapo-Perspektive geschrieben; ansonsten kenne man das KZ in der Literatur nur aus der Opfer- oder Täter-Perspektive. Diese "unzuordenbare" Rolle der Kapos, der Täter wie Opfer sei, habe ihn besonders interessiert. Nicht ohne Mitgefühl, jedoch mit Distanz, schildert der Autor seinen Protagonisten Krutzler, ein Produkt der Herkunft wie der Umstände. Politisch nicht ohne Durchblick. Dem alten Kumpel Wessely erklärt er zum Beispiel treffend, wie es den braunen
"Großverbrechern" gelungen sei, mit den Alliierten nahtlos dort weiterzumachen, wo sie mit den Nazis aufgehört hätten. Zu deren Vorteil kündigt sich auch bald der Kalte Krieg an. Drastisch wie mit psychologischem Gespür schildert der Erzähler die letzten Tage des paranoiden "Großverbrechers" Stalin samt Entourage.
Als das NS-Terrorregime sein Ende nimmt, muss sich Krutzler neu erfinden, beschließt "nie wieder die Kontrolle abzugeben". Seine Vergangenheit wird zum Investment für die Zukunft. Im zerbombten Wien sieht er, wie aus den rot-weiß-roten Fahnen einfach das Hakenkreuz herausgetrennt worden ist, wie sich viele, die damals die Nazis begeistert begrüßt haben, nun als das erste Opfer Hitlers darstellen. Dennoch wird Krutzler, der bald ganz Wien unter sich hat, seine Kapo-Vergangenheit gefährlich einholen.
Wien, ab April 1945 nur von der Roten Armee besetzt, wird aufgrund des Potsdamer Abkommens, am dem 1. September 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt: sowjetisch, US-amerikanisch, britisch und französisch. Auch die Kriminellen teilen nach eigenen
Kriterien die Stadt unter sich auf, vorneweg die "Krutzler-Leute", die sich geschickt die menschliche Gier zunutze machen für ihre krummen Geschäfte mit Vertretern der Besatzungsmächte. Gleichwohl betonen sie, noch einen Ehrenkodex zu haben, was man von der nächsten Verbrechergeneration, die schon in den Startlöchern sitzt, nicht sagen könne. Schmuggel, Glücksspiel und Prostitution florieren unter Krutzlers strengem Regiment. Mit dem Ende der Sektorengrenzen dienen undurchsichtige Agenten, nicht selten alte NS-Verbrecher, dem Geschäft. Hauptsache Antikommunisten!
Die sechziger Jahre kommen. Die Zeiten ändern sich, die Erdberger werden alt, verstehen die Welt nicht mehr so recht: Boogie-Woogie, Rock´n Roll, das Wirtschaftswunder. Jugoslawische und albanische Kartelle machen ihnen die Herrschaft über Wien streitig. Der alte Polizeichef wird zwangspensioniert, der neue kann eher mit den Jugoslawen. Und am Ende kommt es zum Showdown.
Ein „bisher wenig bekanntes Kapitel der Wiener Nachkriegsgeschichte", stelle er dar, erklärt David Schalko, um die „umkehrte Seite der Medaille der österreichischen Gesellschaft“ zu zeigen. Für ihn sei die Gier das wichtigste Motiv im menschlichen Verhalten, was sich in der Brutalität seiner Protagonisten spiegelt. Gewiss nicht nur für Österreich gültig! Der Roman besticht durch seine ganz besondere Sprache. Wenig Dialoge, viel indirekte Rede, der häufig gebrauchte Konjunktiv schafft Distanz zu dem bizarren Plot. Eine Melange aus Wiener Verbrecher-Schmäh, Ironie, Sarkasmus, tiefschwarzem Humor erzeugen einen Sprachwitz, der selbst steilste Sätze launig erscheinen lässt. Schalko liefert einen starken Roman. Rasant geschrieben, spannend zu lesen - von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Aktualität ließe sich durchaus diagnostizieren, ist doch die Gier als immerwährende Konstante im menschlichem Verhalten überdeutlich in unserer Gegenwart.
David Schalko: "Schwere Knochen". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 24 Euro