Vor mehr als zwanzig Jahren - bald nach Charlottes Geburt - trennen Heidi und Georg sich. „Sie hatten von Anfang an nicht zusammengepasst“, heißt es lapidar in Doris Knechts Roman "weg". Beide richten sich ein in ihrem neuen Leben. Heidi kehrt nach Deutschland zurück in ihre abgezirkelte kleinbürgerliche Idylle. Während Georg, ein lebensfroher Hippie, in Österreich bleibt, nach dem Tod des Vaters ins Waldviertel zurückkehrt, um den Familiengasthof „Hirschen“ weiterzuführen.
Da verschwindet die erwachsene Tochter in Südostasien. „Auf der Flucht vor ihrer Realität, ihren Eltern, ihrer Krankheit.“ Weit weg vom Zugriff deutscher Kleinbürgerlichkeit, wie Georg später bemerken wird.
Bewusst kleingeschrieben ist der Titel des Romans: „weg“! Abhanden kommt nicht nur Charlotte, sondern auch Heidis Mann Martin. „weg“ wollen auch andere: vom Land in die Stadt, von der Stadt aufs Land, zurückkehren nicht alle.
Ausführliche Rückblenden zeigen Charlottes Entwicklung. Eine Frühgeburt, ein Schreibaby, das sich nur vom Vater beruhigen lässt. Welches Heidi das bleibende Empfinden vermittelt, dass sie die falsche Tochter zugewiesen bekommen habe. Sie und Georg seien mit diesem Kind "zu lebenslänglich verurteilt". Ein eisiger Satz, der Heidis ganze emotionale Ambivalenz spiegelt. Später schwänzt Charlotte die Schule, hat die falschen Freunde, trinkt, kifft, entwickelt Panik- und Angstzustände, Verfolgungswahn. Die Diagnose: eine substanzinduzierte Psychose.
Doch der Drogenkonsum allein ist nicht die Ursache, sondern Auslöser. Festgestellt wird eine genetische Disposition. Heidi ist erleichtert, macht sie sich doch Vorwürfe, Schuld zu sein an den Problemen der Tochter. Heidi fühlt sich von allem überfordert, träumt vom schönen problemlosen Hochglanzleben wie in Frauenzeitschriften, macht sich ein Bild, wie ihre Tochter sein sollte, nicht wie sie ist. "Sie wollte die Abgründe auch in ihrem Kind nicht sehen." Ängstlich und unreif, kann Heidi als Mutter keinen Halt geben Und Georg ist weit „weg“, mit sich und seiner neuen Familie beschäftigt.
Dennoch lieben und sorgen sich Heidi und Georg um Charlotte. Auf ihrer Suche nach ihr reisen sie durch Kambodscha und Vietnam, erleben die bezaubernde Schönheit wie die abgrundtiefe Hässlichkeit der Landschaften und Städte. Vermüllte Flüsse, der Klimawandel, Begegnungen mit Einheimischen und Touristen. Eine Reise ins Unbekannte, wovor Heidi sich fürchtet, allerdings aus Angst um ihre Tochter über sich hinaus wächst. Umfassende Passagen in erlebter Rede geben Einblick in die Gedanken, Gefühle und Eindrücke der Protagonisten. Direkt und schnörkel beschreibt Doris Knecht, wie sich Heidis und Georgs Wahrnehmung von sich und der Welt zu verändern beginnt. Angesichts der Großstadtslums erscheinen ihnen ihre Probleme als „Luxusprobleme“, ihre Streitgespräche als „Luxusdebatten“. „Was sie sehen, macht sie stumm.“ Heidis Heile–Welt–Fassade bekommt Risse, während Georg, der reflektierter ist als Heidi, gedanklich um die Frage, was im Leben eigentlich zählt, kreist.
Die Perspektiven wechseln häufig, fügen Vergangenheit und Gegenwart zu einem Bild zusammen.
Als originelles, an entscheidenden Stellen wiederkehrendes Motiv wählt die Autorin das Mopedfahren. Symbolisierte es einst für Georg das Gefühl der Freiheit, so ist es in Asien ganz pragmatisch das übliche Fortbewegungsmittel. Was bei der ängstlichen Heidi gar zu einem neuen Selbstbild führt. Lernt sie doch, dass eine Frau alleine auf einem Moped unterwegs sein, das heißt alleine handeln kann. Sie verändert sich, zumindest „ein bisschen“, wie sie selbst feststellt.
„Wie man auf einem Moped fährt: Kommt darauf an, wo man geboren wurde, wie man lebt und wer man ist. Doris Knechts intelligent geschriebener Roman „weg“ gleicht einer Erkenntnisreise. „Für eigene Kinder ist man ja immer verantwortlich, das hört ja nie auf. Egal, ob man sich trennt, wegzieht, ob man eigene Probleme hat“, erklärt die Autorin in einem Interview. Entscheidend im Leben ist immer der Blickwinkel. Auch für Charlotte scheint sich am Schluss eine neue Tür zu öffnen.
INFO
Doris Knecht: „weg“
Verlag Rowohlt Berlin. 302 Seiten