Was ist ein „Zeitzeuge“? Hermann Bausinger, Jahrgang 1926, emeritierter Professor für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, stellt in seinem neuen Buch „Nachkriegsuni. Kleine Tübinger Rückblende“ zu Beginn diese Frage, um in gewohnt humoriger Weise selbst die Antwort zu geben: „Zeitzeuge wird man durch ein langes Leben.“
Als Student, Hochschul-Assistent, als Professor und Emeritus war und ist Bausinger, einst einer der führenden deutschen Intellektuellen, der 1477 gegründeten Universität Tübingen, einer der ältesten Universitäten Europas, verbunden. Keine „literarische Selfie-Inszenierung“ erwarte den Leser, kein Anspruch auf Deutungshoheit. Sondern auf 180 Seiten zwei Dutzend literarische Skizzen, „Marginalien“ zur Tübinger Universitätsgeschichte, die er, wie im Vorwort zu lesen ist, nach bestem Wissen und Gewissen formuliert habe.
Hermann Bausinger lässt hinter die Kulissen blicken, schildert kleine Episoden, thematisiert die Besatzungszeit, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit dem Krieg. Der verharmlosende Umgang mit der Vergangenheit sei eher Verdrängung denn Bewältigung gewesen.
Einige Episoden, eine subjektive Auswahl, seien hier herausgegriffen. Ein ganzes Kapitel widmet er der Autor Elisabeth Gerdts-Rupp (1888-1972), der „Federschlange“; ein Übername, den die weitgereiste Ethnologin, eine exzentrische Individualistin, nach einem mythischen Wesen mittel- und südamerikanischer Kulturen, stolz für sich gewählt hat. Obgleich während der NS-Zeit aufgrund ihrer politischen Einstellung die Habilitation für sie blockiert war, übernimmt sie ehrenamtlich ab 1939 die Verantwortung für den Fortbestand der Tübinger Völkerkunde. Ihren Lebensabend verbringt sie am Bodensee, engagiert im Naturschutz zu einer Zeit, als das noch kaum jemand interessierte.
Auch erfährt der Leser, welch großen Wert die 50er und 60er Jahre noch auf „Formfragen“ gelegt haben. Humorvoll erzählt Hermann Bausinger von einem eigenen Fauxpas, wie er sich 1952 seine „Doktor-Urkunde“ abholen wollte in kurzen Hosen, Sporthemd und barfuß in Sandalen. Ein Verstoß gegen die akademischen beziehungsweise gesellschaftlichen Sitten. Oder wie sittenstrenge Zimmerwirtinnen Herren- wie Damenbesuch untersagen, besorgt um die Moral ihrer Studenten und wenigen Studentinnen.
Den Chefredakteuren und Verlegern des Tübinger „Schwäbischen Tagblatts“, Vater Ernst und Sohn Christoph Müller, widmet der Autor ebenfalls ein eigenes Kapitel. Zwischen dem Ludwig-Uhland-Institut, dessen Leiter Bausinger bis zu seiner Emeritierung 1992 war, und der „Neckar-Prawda“, wie die Zeitung aufgrund ihrer eher linksliberalen Ausrichtung genannt wurde, gab es trotz mancher Differenzen freundliche Kontakte. Auf den scheidenden
Chefredakteur Ernst Müller habe der hochbetagte, in Tübingen Philosophie lehrende Ernst Bloch, einer der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, bei dessen Abschiedsfest eine launige improvisierte Laudatio vorgetragen. Bloch, der gegen Endes seines Lebens, so Bausinger, „immer mehr von den Theologen vereinnahmt wurde, entsprach hier seiner Devise, er wolle nicht im Drüben fischen“. Bloch muss übrigens aus Nazi-Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrieren, ist Philosophieprofessor in Leipzig von 1948 bis 1965, passt dem SED Regime nicht, da er ein zu eigenständiger Denker ist, lehrt in Tübingen Philosophie, nachdem er 1961 in die Bundesrepublik umgesiedelt ist.
Die 68er-Rebellion an der Universität, auch die eigene Haltung schildert Hermann Bausinger, allerdings weder „kleine Heldensagen“ noch Beschwörungen „heroischer Zeiten“. Keine einheitliche Stoßrichtung habe diese gehabt, sondern sei ein bunter Strauß von Motiven und Zielen gewesen. Auseinandersetzungen unter den diversen kommunistischen Gruppen um die „richtige“ Richtung. Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, für mehr Mitbestimmung. Go-Ins, Sitzblockaden, ein Anti-Springer-Tag, Störung von Vorlesungen.
Das Bleibende: Das gesellschaftliche Normengefüge, Einstellungen und Lebensweisen sind auf Dauer verändert worden.
„Aufgabe der Forschung ist es, im komplexen und sich ständig verändernden Feld unserer materiellen und geistigen Wirklichkeit gesicherte Strukturen und verlässliche Standpunkte zu finden.“ Mit diesen Worten erinnert der emeritierter Professor am Ende an die Verantwortung wissenschaftlicher Forschung, um mit "Attempto – ich wag’s", dem Wahlspruch des Stifters der Universität, Graf Eberhard im Bart, seine geistreichen Überlegungen zu schließen.
Hermann Bausingers „nachkriegsuni. Kleine Tübinger Rückblende“ ist ein Rückblick voll heiterer Gelassenheit auf ein gelungenes akademisches Leben, ohne das Bedürfnis einer Selbstinszenierung. Aufschlussreich wie unterhaltsam zu lesen, noch dazu in einem eleganten Deutsch.
Hermann Bausinger
„nachkriegsuni. Kleine Tübinger Rückblenden“
185 Seiten
Verlag Klöpfer,Narr