Eine junge Frau erzählt ihre Geschichte, vom Alltag, von der Arbeit im Haus, auf dem Feld, von den Gebräuchen ihres Dorfes. Von Angst und Verrat. Und vom Kampf um ein selbstbestimmtes Leben.
Als Findelkind wächst sie dort heran. „Dieses Dorf ist nicht das Tor zur Hölle, es ist die Hölle selbst. Wie kannst du da leben, wie kannst du da ein Mensch sein, der Gutes im Sinn hat, wie kannst du in diesem Dorf leben und nicht schlecht werden.“
Nach dem gefeierten Erzählband „Wir haben Raketen geangelt“ veröffentlicht Karen Köhler nun ihren ersten Roman mit dem Titel „Miroloi“, ein altgriechisches Wort für eine Totenklage, verfasst und gesungen von Frauen. Ein Klagelied in 128 Strophen, erzählt in der Ich-Form durch die Protagonistin. Die Autorin rückt ganz dicht an diese heran, gibt deren Gedanken wie Wahrnehmungen authentisch wieder. Der Erzählton naiv-beschwörend.
Das Dorf, eine archaische Männergesellschaft, gleicht einem totalitären religiösen Regime, überwacht vom Ältestenrat aus dreizehn Männern. Die Ältestenfrauen, Klageweiber „in Schwarz“, zerfressen sich vor Hass und Missgunst. Angst vor Strafen oder Ausgrenzung sind allgegenwärtig. Unter den Männern stehen die Frauen des Dorfes. Unter diesen die namenlose Ich-Erzählerin, die als Sündenbock dient. Vor allem den Frauen. Palavernd sitzen die Männer im Lokal, zählen Betketten. Während die Frauen den Großteil der Arbeit verrichten. Schafe, Ziegen werden gehalten, Oliven, Wein angebaut. Unter Höchststrafe steht das Verlassen des Dorfes. Die Protagonistin lebt im Haus des Bethaus-Vaters, dem „Herz“ des Dorfes hoch oben am Berg, der die inzwischen 16jährige einst als Säugling gefunden hat. 30 Gesetze, die mit der Khorabel, dem „heiligen Buch“ der Gemeinschaft, übereinstimmen, regeln bis ins Detail das gesamte Leben. Auch die Geschlechterrollen.
Der Betvater, einer der wenigen gütigen Menschen, betreut das Dorf als Priester. Er und die ehemalige Kinderfrau versuchen das Mädchen zu schützen, ihr heimlich Freiräume zu verschaffen. So lehrt er sie, obwohl verboten für Frauen und Mädchen, das Lesen und Schreiben. Wissen sollen Mädchen nicht mehr als das, was sie später zu einer „guten“ Frau machen wird. „Gut“ bedeutet, brauchbar zu sein. Was die Frauen im Dorf akzeptieren. Nach dem Tod des Ziehvaters wird die Lage der jungen Frau immer gefährlicher. Dass die Geschichte nicht in fernen dunklen Zeiten angesiedelt ist, merkt man nur daran, dass ein Hubschrauber über dem Dorf kreist oder ein Fernseher als Futtertrog zweckentfremdet wird.
Wer aufbegehrt oder ausschert, kommt „zur Korrektur“ an den Pfahl, wird gar mithilfe eines „Korrekturbretts“ verstümmelt. Was die Ich-Erzählerin als Kind erleiden muss. Im schlimmsten Fall werden Vergehen mit dem Tod bestraft. Folglich misstrauen die Menschen einander, denunzieren, speisen so gewollt ungewollt das System. „Tausend Augen hat das Dorf“, heißt es im Roman.
Daher lernt die Protagonistin früh aus Selbstschutz ihre Gefühle zu verbergen, begehrt jedoch innerlich auf. “Was sind das für Gesetze?“, fragt sie sich, um sich selbst die Antwort zu geben: „Müllgesetze!“ Da sie weder Vater noch Mutter kennt, bleibt sie als Außenseiterin ohne Namen, wird erniedrigt, gepeinigt, missbraucht. „So hässlich, so anders, so fremd“.
Eine leidenschaftliche Liebe verbindet sie mit Yael, einem Betschüler, der ihr einen Namen, eine Identität gibt. Brandgefährlich! Da die Menschen mehr Freiheiten zu fordern beginnen, reagiert der Ältestenrat mit großer Brutalität: Ausgangssperre, die Frauen müssen sich verhüllen, kollektives Steinigen als ultimative Strafe. Legitimiert mit einer „neuen, fortschrittlichen Khorabel“ mit “neuen, fortschrittlichen Gesetzen“, dem „Göttergesetz“. Mit jeder Strophe im Roman wächst der Widerstandsgeist der Protagonistin, ihr Drang nach Freiheit. Sie ist keine reflektierende Figur, wie denn auch angesichts der Umstände, wie sie aufgewachsen ist.
„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ Dieses Zitat der Philosophin Hannah Arendt stellt Karen Köhler dem Roman als Leitgedanke voran. Adolf Eichmann, Leiter der zentrale Dienststelle des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, zuständig für die Vertreibung, Deportation und Ermordung der Juden in Europa, beruft sich auf Immanuel Kants Pflichtbegriff, um seine Taten zu rechtfertigen. "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant", widerspricht Hannah Arendt. Die entscheidende Ergänzung „bei Kant“ wird meist nicht mitzitiert, was die Aussage verzerrt.
Hannah Arendt lehnt „Gehorsam“ nicht per se ab, sondern sie will klar stellen, dass Kants Pflichtbegriff nichts mit Kadavergehorsam zu tun hat. Im Gegenteil. Nach Kant ist die Würde dem Menschen angeboren, der einzelne Mensch zur Freiheit und sittlichen Autonomie bestimmt. „Achtung“ ist ohne Wenn und Aber die Basis aller zwischenmenschlichen Beziehungen. In einem Unrechtssystem wird Gehorsam sogar zum Verbrechen. Und das ist das eigentliche Anliegen von Karen Köhlers Roman „Miroloi“.
Alles, was Karen Köhler in ihrem Roman „Miroloi“ beschreibt, ist nichts Neues. „Miroloi“ ist das Klagelied vom Leiden, eine Frau zu sein, in einer archaischen patriarchalischen Gesellschaft. Von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft zieht sich diese Leidensgeschichte. Frauenverachtung bis hin zur Ermordung ist Teil eines uralten patriarchalen Herrschaftssystems, je nach Kultur mal mehr, mal weniger.
Margaret Atwoods 1985 erschienener Roman „Der Report der Magd“, die Vision eines totalitären Regimes, in dem Frauen völlig rechtlos sind, ist eine der bedeutenden Dystopien des 20. Jahrhunderts. Karen Köhlers kluger Roman, in dem eine junge Frau um Autonomie und Freiheit kämpft, stellt sich in diese Tradition.
"Miroloi" lässt sich als Warnung lesen. Dass Freiheit nicht selbstverständlich ist, sondern immer wieder verloren gehen kann.
Karen Köhler, "Miroloi"
Roman, 464 Seiten
Carl Hanser Verlag
* "Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd' er in Ketten geboren" - Zitat von Friedrich Schiller