Vor 250 Jahre am 20. März 1770 wird Friedrich Hölderlin, Zeitgenosse Goethes, Schillers, Hegels und Schellings, in Lauffen am Neckar geboren. In Nürtingen verbringt Hölderlin Kindheit und Jugend, 1843 stirbt er in einer Tübinger Turmstube.
Der wie der Dichter aus dem Württembergischen stammende Autor und Journalist Kurt Oesterle setzt sich in seinem neuen Buch mit der Frage auseinander, was der „größte Dichter der Deutschen“ uns Nachgeborenen noch zu sagen haben könnte, leben wir heute doch in einer völlig anderen Welt. Keine Biographie erwartet den Leser, sondern der Autor folgt konsequent mit seinen Überlegungen diesem roten Faden. Zahlreiche stimmig ausgewählte Verse sind in den Textfluss eingebaut.
„Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung … – dies, daß ich in unserm Zeitalter die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden“, schreibt Hölderlin 1793 in einem Brief.
Oesterle beginnt mit dem jungen Hölderlin, ein „schöner Jüngling“, von „angeborener Anmut, ein „Freundschaftsmensch“ sei dieser gewesen, betonen die Jugendfreunde Schelling und Hegel. Der württembergischen „Ehrbarkeit“, das heißt dem gehobenen einflussreichen Bürgertum, entstammt der Dichter. Seine Vorfahren sind Staatsbeamte und evangelische Theologen. Mit neun Jahren hat er bereits den leiblichen Vater wie den Stiefvater verloren. Wenig ausgeglichen ist sein Inneres, schwere Melancholie wechselt mit Wutanfällen bis hin zur Raserei. Hinzu kommt ein belastendes Mutter-Sohn-Verhältnis, diese - selbst Pfarrerstochter - möchte, dass der begabte Sohn in die Fußstapfen der Vorfahren tritt, obwohl er früh zu verstehen gibt, dass er dazu keine Berufung verspürt. Das "heilige" Amt des Dichters will dieser ausüben, als Menschheitslehrer wirken.
Sein Bildungsweg führt über die evangelisch-theologischen Kaderschmiden, den Klosterschulen Denkendorf, Maulbronn, in das für die deutsche Geistesgeschichte so bedeutende Tübinger Stift, in welchem die geistliche und geistige Elite herangezogen wird. Für Hölderlin eine „Galeere der Theologie“. Dennoch gedeihen dort auch Freigeister, dürfen doch Denker wie Spinoza, Kant, Rousseau, welche den Menschen aus Unmündigkeit und Abhängigkeit befreien wollen, gelesen werden.
Ästhetische Erziehung statt Umsturz
Hölderlin lebt in einer Epoche gewaltiger Umbrüche, wie Kurt Oesterle verdeutlicht. Das 18.Jahrhundert ist das Jahrhundert des in der griechischen Antike und der christlichen Philosophie seinen Anfang nehmenden Naturrechts, welches die Freiheit und Gleichheit des Menschen postuliert. Das seinen Niederschlag finden wird in den Menschen- und Bürgerrechten. Hölderlin, der an der Beschränktheit seiner Gegenwart leidet, begeistert sich für die Französische Revolution, verabscheut jedoch deren Gewaltexzesse wie auch die napoleonischen Eroberungskriege. Menschenrechte und freie Selbstbestimmung bleiben indes seine „Zauberworte“. Die Haltung zu Griechenland, einst für den Dichter „strahlendste Utopie“, ein Phantasiegebilde, beginnt sich zu wandeln. Zu den antiken Göttern, die ihm näher gewesen sind als der christliche Gott, gesellt er Christus, der „freundlichernst den Menschen zugetan“ ist. Als möglicher „Nothelfer“ gegen die „Gier und Schamlosigkeit“ der aufstrebenden bürgerlichen Klasse, mutmaßt Oesterle. Ähnlich wie bei dem Franzosen Chateaubriand. Hölderlin, der um die Gefährdung des Menschen weiß, warnt vor dessen Hybris, vor der „menschlichen Raserei“ in einer glaubensfernen Welt. „Hyperion“, Hölderlins einziger Roman, thematisiert die Frage, wie ein überholtes Staats-und Gesellschaftssystem verändert werden könne. „Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr“, ruft der Titelheld in dem Dramenfragment „Der Tod des Empedokles“. Abgewandt hat sich Hölderlin von seiner Vorstellung vom gewaltsamen Umsturz, stattdessen setzt er mit Schiller, Kant und Pestalozzi auf die ästhetische Erziehung des Menschen, dessen Befreiung aus der Unmündigkeit und auf eine von Liebe getragene Volkspädagogik. Reform statt Revolution. In diesem Kontext begreift Hölderlin seine Dichtung als menschheitsrettende Kraft, welche in Einklang mit der „mächtigen, göttlich-schönen Natur“ den „Frieden“ zwischen Individuen, Nationen und Religionen verkünden will. Liebe und Freundschaft sollen die allen Menschen naturrechtlich gegebene Gleichheit herstellen. Nicht nur Frieden unter den Menschen postuliert er, sondern auch mit der „göttlichen“ Natur, in einer heiligen Welt der „Versöhnungszeit“ lebend. Eine Liebeserklärung an das Leben, an die Natur, an den Menschen. Hölderlins zutiefst religiöse Sprache, „heilig“ und „göttlich“ sind wohl die am häufigsten gebrauchten Wörter, soll Mittlerin sein zwischen Geist und Welt.
Einen Absolutheitsanspruch an sich selbst und an die anderen stellt Hölderlin. „Was mir nicht alles und ewig alles ist, ist mir nichts“. Seine Zeitgenossen - bis auf Bettina von Arnim – schätzen den Dichter wenig. Schiller protegiert Hölderlin am Anfang, Goethe hingegen bleibt reserviert. Wirklich entdeckt wird Hölderlin erst im 20. Jahrhundert.
Die Welt erneuern, Gegensätze versöhnen
„Kein Dichter wurde hierzulande so oft und so intensiv für ideologische Weltdeutung beansprucht wie er“, stellt Oesterle fest, um mithilfe der wechselvollen Rezeptionsgeschichte seine Feststellung zu verdeutlichen. Dunkel und unzugänglich erscheinen die Gedichte, folglich leicht als Projektionsfläche für den jeweiligen Zeitgeist verwendbar. So gilt Hölderlin gar dem George-Kreis als „Vorsänger“ der gleichgeschlechtlichen Liebe. Von den Nationalsozialisten wird Hölderlin „braun“ eingefärbt. Die 68er machen ihn zu ihrem „Ahnherrn“, der Stückeschreiber Peter Weiss zu einem im Tübinger „Kercker“ schmachtenden Marxisten. Entgegen den historischen Fakten, wird doch der Dichter von 1807 bis 1843 liebevoll umsorgt von der Tübinger Schreiner-Familie Zimmer, denn Vater Ernst ist ein Verehrer.
Ein anderes Hölderlin-Bild zeichne rings um den Erdball hingegen die „Weltrezeption“, betont Oesterle. Zu den größten Lyrikern der Weltliteratur, zu den meistübersetzten deutschen Dichtern gehöre er, dessen tiefe Spiritualität vor allem in indianischen und buddhistischen Kulturen eine offenkundige Resonanz gefunden habe.
"Was bleibet aber, stiften die Dichter", prophezeit der Dichter-Theologe Hölderlin. Um zur Ausgangsfrage Kurt Oesterles zurückzukehren: Was hat Hölderlin den Nachgeborenen, auf welche er seine ganze Hoffnung setzt, noch zu sagen? Was macht ihn letztlich zu einem „großen“ Dichter? Hölderlin schreibt Gedankenlyrik. Das Verhältnis von Geist und Natur, vom Wesen des Göttlichen und Menschlichen thematisierend, will er die Welt erneuern, Gegensätze versöhnen. Kostbare Gedichte, meisterlich in Form gegossen, voller Musikalität hat der Sprachmagier geschaffen. Fremd mag der „hohe Ton“, sein Pathos heute klingen. Wer jedoch empfänglich ist für Hölderlins Sprachkunst, den berührt seine Lyrik noch immer. Ähnliches gilt für sein Verhältnis zur Natur. Eine Welt ersehnt er sich, in welcher der „göttliche Geist“ und die Erde sich entfalten, der Mensch und die Schöpfung in Harmonie leben können. „Eines zu sein mit allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.“ Von seinen Träumen ist der von Demokratie und bürgerlicher Freiheit in Erfüllung gegangen, nicht jedoch der von einem Leben im Einklang mit der Schöpfung, frei von Entfremdung.
Kurt Oesterle
Wir & Hölderlin?
Was der größte Dichter der Deutschen uns 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat
177 Seiten
Verlag Klöpfer, Narr