Am 20. März 1770 wird Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Im gleichen Jahr wie Hegel und Beethoven. Aufgewachsen im Nürtingen, gestorben 1843 in einer Tübinger Turmstube. Pünktlich zu Hölderlins Geburtstag widmet sich der renommierte Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski, der wie der Dichter aus dem Württembergischen stammt, dessen Lebensgeschichte. In „Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund!“ zeigt er einen Menschen, der in einer Epoche der Umbrüche, in „politisch erregten Zeiten“ lebt, zerrissen zwischen Tradition und Moderne. Briefe, Gedichte, Ausschnitte aus Arbeiten Hölderlins, souverän eingebaut in das Buch, verdeutlichen, was diesen zu einer bestimmten Zeit in seinem Leben bewegt hat im kultur-und geistesgeschichtlichen Kontext.
Safranski beginnt mit der Schilderung von Hölderlins Herkunftsmilieu: Staatsbeamte und evangelische Theologen. Weitläufig verwandt mit Schelling, Hegel und Uhland. Der Vater stirbt, als Hölderlin zwei Jahre alt ist, den Stiefvater verliert er mit neun. Die streng pietistische Mutter möchte, dass der Sohn Pfarrer wird wie seine Vorfahren, für dessen Wunsch, Dichter zu sein, hat sie indes kein Verständnis. Worunter der Sohn wiederum, der schon früh eine Abneigung gegen den Pfarrerberuf empfindet, leidet. In erniedrigender Abhängigkeit hält die Mutter den Sohn, welcher nie über sein ansehnliches vom Vater geerbtes und von ihr verwaltetes Vermögen verfügt, sich stattdessen als Hauslehrer demütigen lassen muss.
Hölderlin träumt den Traum von Demokratie und Menschenrechten
Seine Ausbildung erhält Hölderlin in den evangelisch-theologische Kaderschmiden, den Klosterschulen Denkendorf, Maulbronn, in dem für die deutsche Geistesgeschichte so bedeutenden Tübinger Stift. Dort freundet er sich mit Hegel und Schelling an. Nicht wenige der Stiftler, auch Hölderlin, die späteren Philosophen Schelling und Hegel, schwärmen für die Französische Revolution, nehmen teil an politischen und kulturellen Diskussionen. Hölderlin liest Rousseau, Klopstock, Schiller und Schubart, sympathisiert mit den Jakobinern, wird desillusioniert angesichts deren Terrorherrschaft wie durch die marodierenden napoleonischen Heere auf Eroberungskriegen. Verabschieden wird er sich allerdings nicht von seinem Traum von Demokratie und Menschenrechten.
Im Tübinger Stift wird eine geistliche und geistige Elite herangezogen, werden begabte württembergische Landeskinder zu evangelischen Pfarrern ausgebildet. In dieser „Galeere der Theologie“ leidet Hölderlin „Seelenqualen“; dennoch haben die Studenten dort auch solche „geistigen Freiräume“, dass sie Philosophen wie Spinoza, Leibniz und Kant lesen können. Die Themen: Gott, Natur, Mensch, Freiheit. Ganz nebenbei vermittelt Safranski, der ein profunder Kenner des 19. Jahrhunderts ist, meisterlich Einblick in die philosophischen Debatten jener Tage, welche die Grundlage schaffen für das moderne Denken. Hölderlin leidet an der gesellschaftlichen Enge, an seiner eigenen Unausgeglichenheit. Nach Beständigkeit sehnt er sich, hält den erhofften Frieden auf Dauer aber nicht aus. „Die innere Freiheit ging ihm verloren.“ In die Dichtung will er sich retten: „Doch es klafft ein Abgrund zwischen Poesie und Leben.“ Darum geht es Safranski, nicht um eine neue philologische Untersuchung von Hölderlins Werk.
„Ewig glücklich und ewig unglücklich“
Während der Tübinger Zeit veröffentlicht Hölderlin seine ersten das antike Griechenland besingenden Hymnen, beginnt seinen einzigen Roman „Hyperion“, der auch als philosophisches Traktat über Freiheit und Tyrannei gelesen werden kann. Hölderlins Lebensthema. Das Dramenfragment „Der Tod des Empedokles“ befasst sich mit den letzten Lebenstagen des vorsokratischen Philosophen Empedokles, der sich „Im freien Tod, nach göttlichem Gesetz“ das Leben nimmt.
Die griechische Antike mit ihren Göttern, welche ihm näher sind als der christliche Gott, ist Hölderlins „Traumland“ wie Frankreich für ihn das „Traumland von Revolution und Republik“ ist.
Nach dem Theologiestudium will Hölderlin den Beruf des Hauslehrers ergreifen, die Mutter, die immer noch darauf drängt, dass er Pfarrherr werden solle, lässt er wissen, er fühle sich „tüchtiger zum Erzieher denn zum Predigtamt.“ Diverse Hofmeisterstellen hat Friedrich Hölderlin inne, nichts will ihm gelingen. 1793 bis1795 auf Empfehlung Schillers bei Charlotte von Kalb im Thüringischen 1796 bis 1798 bei dem Frankfurter Bankier Gontard, in dessen Frau Susette er sich unsterblich verliebt, die seine Liebe erwidert und der er als „Diotima“ ein literarisches Denkmal setzt. „Ewig glücklich und ewig unglücklich.“
Während seiner Jenaer Zeit Ende 1795 gehört Hölderlin dem „ Kreis der Freien Männer“ an, in welchem sich aufgeklärte Männer und Frauen, Fichte, die Schlegels, Novalis, Wilhelm von Humboldt, die Schriftstellerin Sophie Mereau, um einige zu nennen, zum Diskurs treffen. Fast täglich ist er zu Gast bei Schiller, Goethe hingegen bleibt reserviert.
Wie verrückt war er wirklich?
Hölderlin besucht in Jena Vorlesungen bei Fichte, begeistert sich für die kantische „Revolution der Denkungsart“, welche das Individuum als freies und moralisches Wesen in den Mittelpunkt stellt. Für Hölderlin, wie Safranski betont, nicht nur von akademischer, sondern von existenzieller Bedeutung. „Besser gedeihen unter der Freiheit heiligem erwärmenden Lichte, als unter der eiskalten Zone des Despotismus“, so des Dichters Vision.
Nachdem er 1798 Frankfurt verlassen muss, ist er 1801 bis 1802 jeweils für kurze Zeit Hauslehrer in Sankt Gallen und Bordeaux . Weltfremd und lebensuntüchtig. Verwirrt und verwahrlost taucht er in Stuttgart wieder auf. Im Alter von 36 Jahren wird Friedrich Hölderlin in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. „… ich überzeugte mich bald, dass dieses zart besaitete Instrument auf immer zerstört sey“, stellt Schelling fest.
1807 nach seiner Entlassung mit der Diagnose „unheilbar“ nimmt ihn der Schreinermeister Ernst Zimmer, ein Verehrer des Dichters, bei sich auf. „Hochgeachtet und liebevoll behandelt“ verbringt dieser die zweite Hälfte seines Lebens, von 1807 bis 1843, in dem Tübinger Turm, schreibt auch dort noch Gedichte. Die meisten Freunde gehen auf Distanz, auch die Mutter. Besucht wird er von Studenten.
„Wie verrückt war er denn nun?“, fragt Safranski, um ausführlich zeitgenössische Schilderungen wie die von Wilhelm Waiblinger, Varnhagen van Ense, Rahel Varnhagens späterem Ehemann, von dem jungen Christoph Schwab zu zitieren. Eine definitive Antwort findet sich nicht.
Am 7. Juni 1843 stirbt Hölderlin. An seiner Beerdigung nehmen weder alte Freunde, Bekannte noch Professoren teil. „Doch hundert Studenten folgten dem Sarg.“
Ein Priester der Poesie
Einen Überblick über die Rezeption des Dichters gibt Safranski am Ende des Buches: Verehrt wird der tote Friedrich Hölderlin von den Romantikern, von der freisinnigen literarischen Bewegung „Junges Deutschland“. 1826 bringen die Schwaben Ludwig Uhland und Gustav Schwab die erste Gedichtsammlung heraus. Nietzsche lässt sich von Hölderlin inspirieren. „Braun“ eingefärbt wird er während der NS-Zeit. Später wird er von den Linken vereinnahmt. Der mitunter schwer verständliche Hölderlin bietet sich geradezu an als Projektionsfläche für den jeweiligen Zeitgeist, was mit einem Goethe oder Heine zum Beispiel nicht ginge.
"Was also ist das für ein Feuer, das in Leben und Poesie Hölderlins brennt? Das ist die Frage, der dieses Buch nachgeht", schreibt Safranski. Hölderlin ist ein zutiefst unglücklicher, innerlich einsamer Mensch, an sich und der götterfernen Zeit leidend. Wundervolle Gedichte hat Hölderlin, der heute zu den größten Lyrikern der Weltliteratur zählt, geschaffen. Poesie und Religion sind bei ihm eins, die Poesie soll die Menschen erlösen. Ein „Priester der Poesie“ habe der Dichter sein wollen. „Denn dies ist meine seligste Hoffnung … – dies, daß ich in unserm Zeitalter die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werde.“ Was ist aus Hölderlins Träumen geworden? Sein Traum von nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit ist heute keine Utopie mehr, nicht jedoch der von einem Leben in Harmonie mit den Göttern und der Natur.
Rüdiger Safranski: Hölderlin. Komm! Ins Offene, Freund! Biografie.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
336 Seiten