(AK) Thea Dorn und Richard Wagner, Schriftsteller aus zwei Generationen, finden sich zu diesem höchst interessanten Projekt zusammen. Richard Wagner, 1952
geboren als Angehöriger der deutschen Minderheit der Banater Schwaben in Rumänien. Thea Dorn, 1970 in Hessen geboren, Fernsehmoderatorin, Schriftstellerin und Dramaturgin. Autoren mit
unterschiedlichem Stil: Sie - leicht, beschwingt, er - verhalten, sachlich. Gemeinsam gestalten sie "(…) ein Bekenntnis zum unverkrampften Umgang mit der deutschen Geschichte, eine Verbeugung
vor der Muttersprache" (F.A.Z.)".
Klug wie kenntnisreich bestimmen die Beiden mehr als 60 charakteristische Eigenschaften der "deutschen" oder "nationalen" Seele; dem Alphabet folgend lässt sich das Buch wie ein Nachschlagewerk
lesen. Thea Dorn und Richard Wagner bewegen sich nicht nur in den Sphären von Kunst, Musik und Literatur, sondern auch ganz profanes Alltagswissen findet seinen Platz. Ohne
Hurrapatriotismus, ohne Deutschtümelei, ohne Besserwisserei.
"A" wie "Abendstille" oder "Abendbrot", "K" wie "Kindergarten" oder "Kulturnation"; letzteres illustriert mit dem Gemälde "Schiller erklärt dem Weimarer Musenhof die Kulturnation".
Davor das heute noch oder gerade wieder erschütternde "Kriegslied" von Matthias Claudius (1779), welches eigentlich ein Antikriegslied ist. "Q" wie "Querdenker", von denen es ganz unterschiedliche gibt: "der Wiener Salonkommunist und Bildhauer Alfred Hrdlicka, der CDU-Partei-Reformformer Kurt Biedenkopf, der Münchener Kabarettist Karl Valentin (…)". Das "Mutterkreuz" - nicht erst mit den Nationalsozialisten en vogue. Bereits Martin Luther fordert die deutsche Frau auf, das Mutterkreuz auf sich zu nehmen. Denn: "Ein Weibsbild ist nicht geschaffen, Jungfrau zu sein, sondern Kinder zu tragen." Die "Narrenfreiheit" lebt sich aus vom Kölner Karneval bis hin zur Berliner Love Parade. Der "Spiessbürger", auch der im Ökoladen. Ohne "Vater Rhein" geht gar nichts. Am Ende die deutsche "Zerrissenheit": "Zwei Seelen wohnen, ach … was für eine Untertreibung! Ein Seelenschwarm flattert in meiner Brust."
Sachliche, wenige Seiten umfassende Darstellungen wechseln mit umfangreichen tiefgründigen Essays. Zum Beispiel - eine umfassende fabelhafte Abhandlung zur "Musik". "Kann man Musiker sein, ohne deutsch zu sein?", stellt Thomas Mann hier die Frage.
"Wir haben sie verleugnet und verloren. Aber ohne sie sind wir hilflos. Zeit, sie wieder zum Leben zu erwecken", erläutert Thea Dorn das Anliegen des Buches.
Jahrhunderte, gar Jahrtausende, welche vorausgegangen sind, spiegeln sich in der europäischen wie deutschen Kultur- und Geistesgeschichte.
"Eine Kultur, die sich gegen fremde Einflüsse abzuschotten versucht, verkommt zum fauligen Binnengewässer. Eine Kultur bleibt aber auch nicht lebendig, indem sie das Eigene dem Vergessen anheimgibt und stattdessen alles, was neu hinzuströmt, unterschiedslos als `Bereicherung´ preist", so Thea Dorn.
"Jede Kultur fußt auf den Gedanken, den Leistungen, den Kämpfen und Leiden der Vorfahren, jeder Mensch steht auf den Schultern derjenigen, die ihn gezeugt, erklärt Friedrich Schiller in seiner berühmten Rede "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" (26. Mai 1789 in Jena). Und: "Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden." Das heißt, wir können das Rad nicht ständig neu erfinden.
Die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann definieren als kulturelles Gedächtnis "die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen." Erworben als Bildungsbesitz stifte es Sinn und Identität, indem der Mensch sein Leben nach historischen, religiösen, mythischen oder philosophischen Vorbildern gestalten könne.
Gleichzeitig schaffe das kulturelle Gedächtnis einen Fundus kunsttauglicher Themen und Motive. Im Kunstwerk würden diese tradierten Inhalte neu gestaltet. Durch die Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis werde Gemeinschaft gestiftet. Im Falle eines Wandels höre die Gemeinschaft auf, diese Gemeinschaft zu sein. Die Menschen verlieren den inneren Halt, am Ende die Fähigkeit, eigene Gedanken zu fassen, sich eine eigene fundierte Meinung zu bilden, jenseits der Ideologien und Meinungsmärkte. Folglich zentral für den Fortbestand der Demokratie.
Mit ihrem Buch zeigen Thea Dorn und Richard Wagner, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Europa als "seelenloses Konstrukt" ohne innere Füllung ist zum Scheitern verurteilt. Schützenhilfe leistet der französische Literaturnobelpreisträger André Gide: "Es ist ein tiefer Irrtum, zu glauben, man arbeite an der europäischen Kultur mit entnationalisierten Werken; ganz im Gegenteil: Je besonderer das Instrument, umso nützlicher wird es im Orchester."
Bausteine, die das Fundament der Persönlichkeit wie das einer Gesellschaft ausmachen. Gehen diese verloren, stehen beide wie Pflanzen ohne Wurzeln da.
Deshalb fordert Thea Dorn eindringlich, historische Traditionslinien offen zu reflektieren. Sich an die einst "überschwängliche Liebe zur Kunst, zur Dichtung, zur Musik" zu erinnern. An die "maßlose Lust am Hervorbringen". Um zu bedauern, dass Goethes Verheißung, wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen, zur fremdsprachlichen Zumutung geworden sei.
Ihr Appell: "Warum versuchen wir nicht, wie einst die Romantiker, unsere glanzlos gewordene Welt zum Singen zu bringen, indem wir versuchen, das "Zauberwort" zu treffen? "Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus." Ein "Rettungsschirm" mag uns gewisse Sicherheit bieten. Trost, Geborgenheit finden wir in einem Gedicht wie dem Joseph von Eichendorffs."
"Gedichte statt Heidi Klum im Bikini", war einst im "Spiegel" zu lesen. Zu ergänzen wäre, Musik, Literatur, Kunst, Philosophie, denn diese geben nicht nur Halt, sondern können auch Trost spenden. Keine neue Erfahrung. Von Ravensbrück, dem größten Frauenkonzentrationslager auf deutschem Gebiet, ist Folgendes belegt: Zehntausende Frauen wurden dort erniedrigt, gemartert, psychisch und physisch vernichtet. Manche schrieben heimlich Gedichte, die beim stundenlangen Appellstehen auf- und weitergesagt, an heimlich veranstalteten Kulturabenden vorgelesen sowie in selbst hergestellten Heftchen festgehalten wurden. Unter permanenter Lebensgefahr. Die Gedichte halfen den Frauen zu überleben, indem sie ihre innere Freiheit und menschliche Würde bewahren ließen.
Die deutsche Kultur sei reich an leisen, genauen Tönen, weiß Thea Dorn. Die heute fehlen. "An uns ist es, sie zu neuem Leben zu erwecken." Das Leben mit kulturellem Wissen zu bereichern. Nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch ist Thea Dorns und Richard Wagners Buch "Die deutsche Seele" ein Genuss. Altmodisch gelehrt, aber nicht schwerfällig daherkommend. Auch durchaus kritisch. "Grundgescheit", attestiert Denis Scheck ("Druckfrisch"). Und geistreich-humorvoll mag man ergänzen.
Illustriert mit Abbildungen von Caspar David Friedrich-Gemälden, von Max und Moritz, "Iphigenie" von Anselm Feuerbach. Von Sofakissen aus den 1950er Jahren. Auch komische Bilder.
Ein echtes Lesevergnügen wie ein echter Augenschmaus!
INFO
Thea Dorn / Richard Wagner
Die deutsche Seele
Knaus Verlag