Ulrich Bechers siebenhundert Seiten starker Roman "Murmeljagd" erzählt von den ersten vier Wochen im Schweizer Exil des Wiener Journalisten und Sozialisten Albert von Trebla, der 1938 zusammen mit seiner Frau Roxane nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland in ein Dorf im Engadin flieht, in der Nähe von Sankt Moritz. Von der Schweizer Fremdenpolizei argwöhnisch beobachtet, von den Einheimischen angefeindet. Trebla, ein ehemaliger Flieger im Ersten Weltkrieg, aus altem österreichischem Adel, fühlt sich verfolgt. „Ich werde gejagt. Nicht wissend, von wem.“
In zwei blonden jungen Wienern, denen er im Gebirge begegnet, vermutet er getarnte Schergen des „Kleinhäuslers“ und „Spießer-Kaisers Adolf Hitler“. Deren Erklärung, auf Murmeltierjagd zu sein, betrachtet Trebla als versteckte Drohung. Er selbst sei „Murmeltierjägerjäger“, warnt er spontan. Diese Begegnung wird Trebla nicht mehr loslassen. Dazu kommen Hiobsbotschaften aus Deutschland: Sein Freund, der sozialistische Armenarzt Maxim, wird so schwer auf dem Transport ins Konzentrationslager Dachau verletzt, dass er elend zugrunde geht. Ein aus dem KZ geflohener kommunistischer Funktionär erzählt beim Billardspiel, wie Treblas Schwiegervater, der weltberühmte Satire-Clown Giaxa, im KZ Dachau in einem makabren „Todesritt“ am Hochspannungs-Zaun sich das Leben nimmt, jedoch letztlich so über die sadistischen SS-Henkersknechten triumphiert. Szenen, die detailliert in ihrer ganzen Grausamkeit erzählt werden.
Gelungener Blick auf Skurriles, Groteskes, Absurdes
Ganz in der Tradition des Expressionismus gestaltet Ulrich Becher seinen 1969 erschienenen Roman „Murmeljagd“ als vielschichtiges Sprachorchester. Virtuos charakterisiert der Autor Figuren und Situationen mithilfe von Mundarten und Spracheigentümlichkeiten.
Eingefügt in den Roman sind Briefe, Dialogpassagen, Rückblenden, welche von Kriegserlebnissen, politischen Konfrontationen, weit zurückreichende Geschehnissen erzählt, sich allerdings nicht verlieren, sondern zusammengeführt werden in der Geschichte Treblas. Der Blick des Autors für das Skurrile, Groteske, Absurde, ob Figuren oder Situationen, sein tief schwarzer Humor wirken nur vordergründig komisch, bleibt doch einem das Lachen im Halse stecken. Immer wieder macht Ulrich Becher deutlich, wie der Roman verstanden sein soll: als „Grand Guignol“, ein Grusel- und Horrorstück. Kommentar zu einer verbrecherischen Zeit, in welcher der „Kleinhäusler“ mit seinen „infernalischen Kackern“ ganz Europa drangsaliert. Eine „kriminelle Epoche“, deren Zeitgeist der Roman grell schildert. Wie vielleicht nur ein Autor es vermag, der wie Becher selbst in Abgründe schauen musste.
Merkwürdige, Trebla beunruhigende Selbstmorde geschehen in dessen Umfeld: So ertrinkt der Landadvokat Colona, ein „aristokratischer Säufer“, der zu viel weiß, mit seiner „Spanielfamilie“ im See. Dann ertränkt sich ein bankrotter Druckereibesitzer, ein junger Mann erschießt sich. Trebla wittert überall Nazi-Agenten, selbst im Freundeskreis. Die Paranoia eines Menschen, der vor Terror fliehen muss. „Ich seh Gespenster“, sinniert der Ich-Erzähler. „Halluzinationen eines abgewrackten Austromarxisten?“ Treblas Welt ist aus den Fugen. Der Augenblick entgleite ihm wie ein Buch, das man weglege, unfähig, die Zusammenhanglosigkeit der letzten Seite mit den vorher gelesenen zu überbrücken, stellt er fest. Während Treblas Frau, die rätselhafte Altphilologin Roxane, sich zunehmend „aus dem Gegenwärtigen distanziert“, das Paar sich fast verliert, nimmt er besessen die Jagd auf, riskiert Kopf und Kragen.
Erschrecken und Lachen
Ulrich Bechers Werk enthält viel Biographisches. Geboren 1910 in Berlin als Sohn eines Rechtsanwaltes und einer Pianistin, studiert er Jura, wird der einzige Meisterschüler des expressionistischen Malers Georg Grosz, ist der jüngste Dichter, dessen Bücher 1933 von den Braunhemden verbrannt werden.
Viele der Geächteten sterben auf der Flucht, begehen Selbstmord, werden ermordet in den Konzentrationslagern. Ulrich Becher gelingt es mit seiner Frau Daba, der Tochter des österreichischen Schriftstellers und Publizisten Alexander Roda Roda, der im Unterschied zu Treblas fiktivem Schwiegervater überlebt, aus Österreich in die Schweiz zu fliehen, dann 1941 über Brasilien in die Vereinigten Staaten. 1948 kehrt er nach Wien zurück und lebt ab 1954 bis zu seinem Tod 1990 in Basel. Heimisch wird er jedoch nie mehr.
Heute ist Ulrich Bechers Werk zu Unrecht fast vergessen, wie die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse in dem Nachwort zu dem nun neu aufgelegten Roman "Murmeljagd" betont. Der Roman sei ein Anachronismus, der sich mit einer Thematik befasse, nämlich der Nazizeit, von der man 1969 nicht mehr schrieb beziehungsweise noch nicht wieder. Dazu im expressionistischen Stil.
„Es bleibt ein gewaltiges, wuchtiges Buch, in dem wieder ein Hauptsatz der Literatur bewiesen wird: Das tiefste Erschrecken liegt, wenn überhaupt, ganz dicht neben dem Lachen. Nur wer, wie Becher, der Katastrophe noch ihre Grotesken abzulauschen versteht, vermag den Leser wahrhaft zu erschüttern“, so Eva Menasses Fazit.
Ulrich Becher: „Murmeljagd“
Schöffling & Co. 2020
712 Seiten